Biographie

Interactive timeline

Dresdner Jahre

Als Richter 1951 nach Dresden zurückkehrt, um dort an der Akademie zu studieren, findet er eine veränderte Stadt vor. Im Februar 1945 wird Dresden bei Bombenangriffen der Alliierten fast vollständig zerstört: „Es gab noch erhaltene Gebäude oder Gebäudeteile, vor allem in der Güntzstraße, wo alle Anfangssemester studierten (...). Was ich gut erinnere, ist, dass wir sehr oft, eigentlich täglich, durch die Trümmer von dem einen Gebäude zum anderen Gebäude gingen, von der Güntzstraße zur Brühlschen Terrasse und umgekehrt. Die ganze Stadt nur Trümmer.“16 Zu Beginn seines Studiums wohnt er in Langebrück bei Dresden bei seiner Großtante Gretl, die ihn, Dietmar Elger zufolge, sowohl finanziell als auch mit einer Unterkunft unterstützt. Bereits kurz nach seiner Einschreibung an der Akademie begegnet Richter Marianne Eufinger, die 1957 seine erste Ehefrau wird. Ema, wie sie genannt wird, studiert Mode- und Textilgestaltung und lebt bei ihren Eltern in Dresden. Sie wird Richters Entscheidung, mit Freunden nur wenige Häuser von Ema Quartier aufzuschlagen, beeinflusst haben.

 

Richter ist begeistert, an der Akademie studieren zu können. „Also erst mal war es etwas ganz Tolles, überhaupt an die Akademie zu kommen, selbst das demolierte Gebäude an der Brühlschen Terrasse war eben wahnsinnig imponierend. Und dass man da nun dazugehörte und die Lehrer echte Künstler waren.'17 Der fünfjährige Studiengang ist strikt reglementiert und beginnt morgens um acht Uhr mit insgesamt acht Stunden Unterricht. „Es war eine sehr altmodische, akademische Schule, wo man das Zeichnen nach Gipsabgüssen und Aktmodellen lernte.“18 Außer täglichem Unterricht in Aktzeichnen, Stillleben und figurativer Ölmalerei beinhaltet der Lehrplan Kunstgeschichte, Russisch, Politik und Ökonomie – Fächer, die Richter ebenso fragwürdig findet, wie den frühen Unterrichtsbeginn.

 

Obwohl in vielerlei Hinsicht konservativ, ist die Akademie gemessen an der Politik der sowjetischen Besatzungsregierung – eine Politik, die der Akademie während Richters Zeit immer stärker verordnet wird – eher liberal. Richter selbst merkt an: „Das Ziel war der Sozialistische Realismus, und die Dresdner Akademie war da ganz besonders gehorsam.“19 Im Gespräch mit Jan Thorn-Prikker erinnert sich Richter: „Es wurde immer verfestigter. Zum Beispiel durften Bücher ab dem Impressionismus nicht mehr ausgeliehen werden, weil ja ab da die bürgerliche Dekadenz begann.“20

 

Das Studium von Künstlern des sogenannten Formalismus ist ebenfalls nicht gestattet, die einzige Ausnahmen bilden Picasso und Renato Guttuso, Künstler, die von den Behörden als Befürworter des Kommunismus toleriert werden. Richter nutzt diese Gelegenheit dankbar und setzt sich intensiv mit deren Arbeit auseinander. Obwohl er damals insgesamt nicht glücklich mit der Akademie und dem dort dominierenden Sozialistischen Realismus ist, räumt er doch ein, dass sein Studium sicherlich einen prägenden Einfluss auf sein Schaffen hatte.

 

Richter entscheidet sich für die neu eingerichtete Wandmalereiklasse unter Heinz Lohmar. Möglicherweise fällt seine Wahl auf den nicht so bekannten Lohmar, statt auf die bekannteren Hans und Lea Grundig, da seine Klasse als weniger dogmatisch gilt. Vielleicht liegt der Grund aber auch darin, dass Richter schon früh für den Maler Hans Lillig schwärmt, den er als Kind in Waltersdorf kennenlernte. Lillig wurde mit einem Wandbild an der Waltersdorfer Schule beauftragt wobei ihm der junge Richter zuschauen und ihm sogar einige Bilder von sich zeigen durfte. Richter schätzt Lohmar, zu dem Robert Storr bemerkt: „Obwohl loyales Parteimitglied, [war Lohmar] noch immer eine vergleichsweise gut informierte, kosmopolitische Figur.“21

 

Auch wenn es immer schwieriger wird Material aus dem Westen zu erhalten, schickt ihm eine Tante aus Westdeutschland jeden Monat das Fotomagazin Magnum, das ihn begeistert. Zusätzlich erreichen ihn von Zeit zu Zeit Bücher und Kataloge. Dank der Unterstützung seines Professors erhält Richter Reisegenehmigungen nach Westdeutschland und in andere Länder, wovon er in den 1950er-Jahren mehrfach Gebrauch macht. Von der Akademie organisierte Fahrten nach Berlin verschaffen Richter Zugang zu Filmen, Museen und Theatern. Darüber hinaus nutzt er so weit wie möglich die Ressourcen, die ihm in der DDR zur Verfügung stehen und befasst sich mit „Caspar David Friedrich und anderen Malern aus dem 18. und 19. Jahrhundert, mit Rokokobildern und Pastellen“22 in den Kunstsammlungen im Schloss Pillnitz bei Dresden.

 

Richter erinnert sich daran, während seiner Zeit an der Akademie eines Tages im Hof gestanden und erstmals Aufnahmen von den Konzentrationslagern und den dort verübten Gräueltaten gesehen zu haben: „Anfang 20 war ich da. Ich vergesse das nie. So was wie ein Protokoll, mit dokumentarischen Fotos. Furchtbare Aufnahmen. [...] ich weiß auch, dass ich mich im Nachhinein gewundert habe, dass die DDR nicht mehr daraus gemacht hat. Das war fast wie ein geheimes Buch. Es war wie der Beweis, schwarz auf weiß, davon, was man immer halb gewusst hatte.”23 Am 17. Juni 1953 nimmt er gemeinsam mit einigen Kommilitonen am Aufstand gegen die DDR-Regierung auf dem Postplatz in der Dresdner Innenstadt teil.

 

Im letzten Studienjahr erhält Richter im Rahmen seiner Diplomarbeit den ersten großen Auftrag: ein Wandbild im Deutschen Hygienemuseum zu malen. Elger beschreibt die Wandmalerei mit dem Titel Lebensfreude als „ideologischen Ausdruck einer heiteren, vom Faschismus befreiten, sozialistischen Gesellschaft“.24 Robert Storrs Einschätzung lautet: „Kompositorisch entspricht Richters Gemälde dem Genre und der Zeit: kräftig gebaute, gesunde Männer, Frauen und Kinder bei nützlichen Tätigkeiten“.25 Prüfer wie Vertreter des Hygienemuseums sind begeistert. Das Wandbild, ganz frei von den Stilmerkmalen seiner reiferen Arbeiten, gibt einen Eindruck davon, welche Richtung Richters Leben und Laufbahn hätten nehmen können, wenn er sich nicht bewusst entschlossen hätte den Kurs zu ändern: „Einen kurzen Augenblick lang vielleicht: vielleicht habe ich ein Leben gesehen, in dem ich gewaltige Bilder für öffentliche Gebäude male. [Aber] eigentlich habe ich mir nie vorstellen können, dass das einmal meine Arbeit wird, als Wandmaler mit Staatsaufträgen“.26

 

Nach einem erfolgreichen Studienabschluss, wird er zur Aspirantur zugelassen, einem Programm der Akademie zur Förderung vielversprechender Künstler. Er erhält drei Jahre lang ein Atelier sowie ein kleines Stipendium und muss im Gegenzug einen öffentlichen Abendkurs halten. Darüber hinaus wird er mit verschiedenen Aufträgen für Wandbilder, darunter exotische Märchenbilder für einen Kindergarten, eine Landkarte, eine Sonnenuhr für eine Schule nahe der polnischen Grenze sowie größere Wandbilder für das Bezirksregierungsgebäude der SED in Dresden betraut, auf denen „muskulöse, Hammer schwingende Männer und Frauen dar[gestellt waren], die eine Straße pflastern und Fahnen schwenkend einem Schlagstock bewehrten, berittenen Polizeitrupp entgegentreten“.27

 

Richter scheint sich auf dem Weg zu einer erfolgreichen, auf staatliches Wohlwollen treffenden, Laufbahn zu befinden. Doch er erträgt die Restriktionen, denen sein Schaffen unterworfen ist, immer weniger: „Das eigentlich Unerträgliche war die Hoffnungslosigkeit, die Zwänge zum Verbiegen, was soll ich sagen, zum Kompromiss, zum Anpassen.“28 Da er sich weder zu eng mit der Kunstszene im Untergrund noch mit Dissidenten einlassen will, die seiner Ansicht nach einen „bestimmten Dünkel“29 pflegen, sucht er auch weiterhin nach einer vertretbaren Position und einer neuen ästhetischen Sprache. „Wir hatten ja auch immer diese große Illusion von einem 'dritten Weg'. Das war die hoffnungsvolle Mixtur aus Kapitalismus und Sozialismus. [...] dieser 'dritte Weg' [war] schon ein idealer Traum.“30

 

Richters Distanzierung von diesen Ansichten wird 1959 durch eine Reise nach Westdeutschland angestoßen, wo er die documenta II in Kassel besucht. Dort sieht er Werke von Jean Fautrier, Lucio Fontana und anderen, die ihm bewusst machen, dass irgendetwas mit seiner Art zu denken nicht stimmen konnte. In ihren Arbeiten erkennt er „dass [...] da ein ganz anderer und neuer Inhalt zur Sprache kam.“31 Es wird ihn fraglos beschäftigt haben, welche Freiheiten die Künstler auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs genossen haben. Elger zufolge reist Richter im März 1961 - nur wenige Monate vor dem Bau der Berliner Mauer - als Tourist mit mehr als nur dem nötigen Gepäck nach Moskau und Leningrad. Auf der Rückreise steigt er bei einem Zwischenhalt in West-Berlin aus und deponiert seine Koffer und fährt weiter nach Dresden, wo er Ema trifft. Ein Freund bringt die beiden dann nach Ost-Berlin, wo sie die S-Bahn in den Westteil der Stadt nehmen und sich bei ihrer Ankunft als Flüchtlinge registrieren lassen. Kurz nach der Republikflucht schreibt Richter am 6. April 1961 einen Brief an Professor Heinz Lohmar:

 

„Mir fällt es sehr schwer, heute an Sie zu schreiben. – Wir haben Dresden verlassen, um in Westdeutschland eine neue Existenz zu beginnen. Die politische Situation macht, dass eine solche Übersiedlung (und geschähe sie auch nur vorübergehend) als Republikflucht und damit als strafbare Handlung angesehen werden muss. Ich musste das berücksichtigen und konnte deshalb aus Gründen der Vorsicht mich mit niemandem über meine Arbeit besprechen. Ich habe viel Zeit gebraucht, um mir über das Für und Wider meines Vorhabens klar zu werden, um nach Überlegungen und Prüfungen eine Entscheidung zu treffen. Es kam zum Entschluss, von dessen Richtigkeit ich überzeugt bin. Die Gründe sind vorwiegend beruflicher Art [...] Wenn ich sage, dass mir die künstlerischen Bestrebungen, das ganze kulturelle „Klima“ des Westens mehr bieten können, meiner Art zu sein und zu arbeiten besser und stimmiger entsprechen, als das des Ostens, so will ich damit die Hauptursache angedeutet haben. Übrigens wurde mir diese Einsicht zur gänzlichen Gewissheit während meiner Reise nach Moskau und Leningrad. Ich will heute also nicht weiter auf die Begründung meiner Übersiedlung eingehen, – ich möchte Ihnen nur sagen, dass es mir bei allem Wissen um die Notwendigkeit meines Tuns, sehr schwer gefallen ist zu gehen; denn ich weiß was ich verlassen habe, und ich ging nicht leichtfertig um schönere Wagen zu fahren.

Es tut mir besonders leid, Ihnen eine solche Mitteilung zustellen zu müssen. Ich will Sie nicht um Verzeihung bitten und kann nicht erwarten, dass Sie für meine Handlungsweise Verständnis aufbringen, – aber ich möchte mir erlauben, Ihnen für all das, was Sie für mich getan haben, für Ihre vielen Bemühungen, die Sie für mich und meine Arbeit in jeder Hinsicht aufwendeten und die ich stets schätzen werde, ehrlich und von Herzen zu danken.“32

 

 

 

16 Interview mit Jan Thorn-Prikker, 2004, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 477.

17 Ebd., S. 478.

18 Interview mit Bruce Ferguson und Jeffrey Spalding, 1978, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 106. 19 Ebd., S. 106.

20 Interview mit Jan Thorn-Prikker, 2004, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 478.

21 Storr, Malerei, 2002, S. 19.

22 Interview mit Robert Storr, 2002, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 389.

23 Interview mit Jan Thorn-Prikker, 2004, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 480.

24 Elger merkt an: „Richter [...] war von der handwerklichen Technik und dem Fortgang der Malerei tief beeindruckt. In seiner späteren Entscheidung für das Fach Wandmalerei während des Studiums an der Dresdner Kunsthochschule ist sicher immer noch etwas von dieser frühen Faszination enthalten.“ Elger, Gerhard Richter, Maler, 2018, S. 15.

25 Storr, Malerei, 2007, S. 19.

26 Interview mit Robert Storr, 2002, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 384.

27 Storr, Forty Years of Painting, 2009, S. 22.

28 Interview mit Jan Thorn-Prikker, 2004, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 483.

29 Ebd., S. 479.

30 Interview mit Jan Thorn-Prikker, 2004, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 479; im Gespräch mit Benjamin Buchloh führt Richter aus: „Da lebte ich in so einem Kreis, der ein moralisches Anliegen für sich in Anspruch nahm, der überbrücken wollte, einen Mittelweg suchte zwischen Kapitalismus und Sozialismus, einen sogenannten dritten Weg. Und so kompromisslerisch war auch dann unsere Denkweise und das, was wir in der Kunst suchten.“ Interview mit Benjamin H. D. Buchloh, 1986, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 165

31 Interview mit Benjamin H. D. Buchloh, 1986, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 165. 32 Brief an Prof. Heinz Lohmar, 1961, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 13.