Biographie

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Die 1990er-Jahre: Vertiefung und Entwicklung

Zu Beginn der 1990er-Jahre konzentriert sich Richter voll und ganz auf seine Abstrakten Bilder. Nach einigen hektischen Jahren, bedingt durch Ausstellungstermine und einer wachsenden Nachfrage auf dem Kunstmarkt, geht es ihm nun vor allem um ein überschaubares Pensum, aus diesem Grund verschiebt er einige bereits geplante Ausstellungen.

1991 widmet er sich erneut dem Spiegel als Medium. Ein Thema, das er bereits 10 Jahre zuvor im Rahmen vier Arbeiten erprobt [WVZ: 470-1, 470-2, 485-1, 485-2] und aus vorherigen Glassobjekten [4 Glasscheiben, WVZ: 160] [Glasscheibe, WVZ: 415/1-2 und entwickelt hat. Ein privater Auftrag, den er 1989 erhält, veranlasst Richter sein Farbtafelprinzip mit seinem Interesse für Glas zu verbinden. Es entsteht ein beeindruckendes Buntglasfenster mit einer Vielzahl farbiger Quadrate [Glasfenster, 625 Farben, WVZ: 703]. Die Kombination von Glas, Spiegel und Farbe erweist sich als fruchtbares Betätigungsfeld für Richter. Werke, die er 1991 schafft, bieten ihm die Gelegenheit, seine Überlegungen zur minimalistischen Abstraktion weiterzuentwickeln. Laut Werkverzeichnis entstehen zunächst drei Arbeiten im rechteckigen Format mit demTitel Spiegel, grau [WVZ: 735/1-3], für welche Richter mit grauem Pigment beschichtetes Glas verwendet. Den grauen Werken folgen alsbald acht Spiegel, blutrot [WVZ: 736/1–8] und im Anschluss daran zwei Doppelspiegel, die zur Installation in der Ecke eines Raums vorgesehen sind: Eckspiegel, braun-blau [WVZ: 737-1] und Eckspiegel, grün-rot [WVZ: 737- 2]. Bis zum Ende des Jahres 1992 entstehen über 20 weitere graue Spiegel.

 

Bei Richters Abstrakten Bildern von 1992 dominieren Streifen und Rastermotive. Dutzende Bilder, die innerhalb von kürzester Zeit entstehen, legen nahe, dass Richter zwar experimentiert, dabei jedoch etwas Bestimmtes sucht. Das, wonach er sucht, ist etwas, womit er in seiner Laufbahn bereits mehrmals Berührungspunkte hatte, jedoch bringen ihn seine Experimente immer wieder auf neue Ideen, die erst im Laufe der Zeit Sinn ergeben.55

 

Mehrere Abstrakte Bilder von 1987, darunter [WVZ: 621] und [WVZ: 643/1-5], werden zum Wegbereiter für Richter Vorhaben, auf das er seit 1992 hinarbeitet: die schlüssige Zusammenführung horizontaler und vertikaler Streifen zu komplexen, sich überlagernden Bildebenen. Eine der Herausforderungen ist die Verbindung der leuchtenden Farben mit jener gedämpften, melancholischen Palette, zu der sich Richter periodisch immer wieder hingezogen fühlt. Dieser Problematik widmete er sich bereits 1972 mit seinen Rot-Blau-Gelb-Arbeiten [WVZ: 327–339], bei der er sich intensiv mit den Prozessen und Phasen des Vermischens von Primärfarben und ihrer daraus resultierenden Verdunklung beschäftigt. Nun greift Richter dieses Thema erneut auf, dieses Mal jedoch mit über zwanzig Jahren Erfahrung im Malen abstrakter Gemälde. Die ersten bedeutenden Werke, bei denen dieses Vorhaben gelingt, ist sein vierteiliger Zyklus Bach [WVZ: 785–788] aus dem Jahr 1992. Jede Leinwand misst drei mal drei Meter, und obwohl Richter in der Vergangenheit mit größeren Formaten gearbeitet hat, wird dieses Abmessung in vielerlei Hinsicht der neue Maßstab für Abstrakte Bilder. Bach [WVZ: 785–788] ebnet auch den Weg für bedeutende Werkzyklen, wie beispielsweise die Cage-Bilder [WVZ: 897/1-6] von 2006.

 

Im Jahr 1993 beginnt nicht nur eine große Wanderausstellung, sondern auch privat erlebt Richter eine große Umwälzung: Seine Ehe mit Isa Genzken geht in die Brüche, was zur endgültigen Trennung führt. Ein Jahr später begegnet Richter der Künstlerin Sabine Moritz, sie werden ein Paar und heiraten kurz darauf. Die Wärme und Zuneigung, die er für sie empfindet, treten deutlich in einer Handvoll Fotobildern zutage, die Richter 1994 malt; beide Werke tragen den Titel Lesende [WVZ: 799-1, 804]. Mit Anmut und Fröhlichkeit, die an das Bildnis Betty [WVZ: 663-5] von 1988 erinnern, zeigen die Arbeiten Sabine Moritz im Profil, vor einer Lichtquelle, beim Lesen einer Zeitschrift. Eine Reihe von acht Bildern, die 1995 entstehen und Sabine Moritz mit dem neu geborenen Sohn Moritz zeigen, zählen zu den intimsten und persönlichsten Werken in Richters Œuvre. Storr spricht von „schier spürbaren Zärtlichkeit“56 und Elger von einer Schilderung des „privaten Familienglücks“.57 Tochter Ella Maria wird ein Jahr nach Sohn Moritz geboren, und im Sommer 1996 zieht die Familie in das neu gebaute Haus in Hahnwald, im Süden von Köln.

 

Auch in den späten 1990er-Jahren malt Richter vorwiegend abstrakte Werke, nur hin und wieder entstehen Fotobilder. 1999 äußert sich Richter hierzu: „Ich liebe die figurative Malerei, sie interessiert mich sehr. Ich habe nicht viele figurative Bilder gemalt, weil mir die Themen fehlen. Die Abstraktion ist für mich das Alltägliche: Sie ist normal so wie das Laufen oder das Atmen.“58 Zu den Höhepunkten der Ende der 90er-Jahre entstandenen Fotobilder zählen [Hahnwald, WVZ: 840-1] wo nun das Haus der Richters steht, 1997, Orchidee [WVZ: 848-9], Seestück [WVZ: 852-1], 1998 und Sommertag [WVZ: 859-1], 1999. In dieser Zeit realisiert Richter weniger Werke als sonst, der Grund hierfür ist ein Schlaganfall, den er im Spätsommer 1998 erleidet, von dem er sich jedoch rasch erholt.

 

Die übermalten Fotografien sind ein Teil Richters Oeuvre, welches in den 1990er zunehmend mehr Beachtung findet. Seit 1986 arbeitet er an diesem Genre, wobei Sils- Maria aus dem Jahr 1998 als das früheste seiner Art gilt. Seit den 1980er Jahren hat Richter über 2000 übermalte Fotografien produziert, darunter die Edition Firenze (2000), welche aus über 2,000 Arbeiten besteht – oder Museum Visit (2011) welche 234 Bilder umfasst. Diese Werkreihe erlaubt es Richter die Sprache der Figuration, Abstraktion und die der Fotografie neu zu verhandeln, oft mit markanten Effekt.

 

Ende des Jahrtausends erhält er einen bedeutenden Auftrag vom Bundestag, welcher mehrere Werke für die Regierungsneubauten in Berlin ausgeschrieben hat. Richter und Polke werden damit betraut, Arbeiten für das Foyer des Reichstagsgebäudes zu gestalten. Elger berichtet, Richter habe ursprünglich gehofft, mit diesem Auftrag das Thema des Holocaust aufgreifen zu können, sucht sich jedoch letztendlich ein unpolitischeres Motiv aus. Er entscheidet sich für eine Interpretation der deutschen Nationalfarben Schwarz, Rot und Gold.

 

Den finalen Entwurf [Schwarz, Rot, Gold, WVZ: 856, 1999] realisiert er in Form von sechs großformatigen, rechteckigen Glasplatten, deren Rückseiten schwarz, rot und gold emailliert sind. Mit zwei schwarzen Glasplatten zuoberst, zwei roten Platten in der Mitte und zwei goldenen Platten zuunterst erscheint die Flagge als länglicher, vertikaler Streifen. Die Gesamtlänge der Platten beträgt über 20 Meter. Das schlichte Konzept ist eine konsequente Weiterentwicklung jener Spiegelarbeiten, mit der Richter das Jahrzehnt begonnen hat, und zugleich eine ideale Lösung für Aufträge im architektonischen Kontext.

 

 

55 In einem Interview mit Bruno Corà, 2000, über die Entwicklung von Ideen in seiner Malerei erklärt Richter: „Es ist die gleiche Erfahrung, die man beim Schreiben macht, man hat eine Idee, aber dann braucht es Zeit, um sie zu entwickeln.“ Interview mit Bruno Corà, 2000, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 369.

56 Storr, Malerei, 2007, S. 80.

57 Elger, Gerhard Richter, Maler, 2018, S. 359.

58 Gespräch mit Paolo Vagheggi, 1999, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 356.